9.11.08

08/38 - [ge]denken, [be]denken ... [er]denken?

song | Глюк'оzа - Москва
mood | tired

lev tahor bra li elokim
veruakh nakhon khadesh bekirbi
al tashlokheyni mil'fanekha
veruakh kadshekha al tikakh mimeni
[
Ps 51:10-12]


einmal mehr, und dadurch zum wiederholten male findet das alljährliche ritual statt, indem man sich erinnert und man beteuert, daß solches nie wieder geschehen solle. einmal mehr worte in massen, von politikern, zeitungskommentatoren, kirche, usw ... und einmal mehr, dadurch die weitere ritualisierung der aussage. es ist nicht so, daß je öfter man etwas wiederholt, es wahrer wird. im gegenteil, je öfter man etwas wiederholt, desto mehr verkommt es zur platidüde, bis es am ende nichts anderes mehr als eine leere worthülse darstellt. ohne aussage, ohne inhalt. eine aneinanderreihung von worten, die schon so oft gesagt und gehört wurden, daß sie keinen mehr betreffen. oder interessieren, auch nur im ansatz.

man beteuert, alles zu tun, was möglich ist, um es nie wieder eintreten zu lassen. und merkt doch nicht, wie es sich nach und nach in kleinen schritten wieder einschleicht. in der sprache, in unausgesprochenem, in den gedanken. natürlich weniger in jenen derer, die beteuern, aber inwieweit ist der stammtisch damit einer meinung; inwieweit denkt der stammtisch anders als er beteuert zu sagen?

man gedenkt den einen und vergißt darüber die anderen. man vergißt über dem gedenken, daß alles irgendwo einmal einen anfang hatte; gedanken, die zu wort gefaßt werden von einer [zu diesem zeitpunkt eher unbedeutenden] minderheit, und die dann jahre später doch über die mehrheit hinwegfegen und von ihr mit begeisterung aufgenommen werden.
plötzlich ist der nachbar [arbeitskollege, freund, ...], mit dem man sich wenige minuten vorher noch wunderbar verstand, ein fremder, jemand der bedrohlich ist. und doch hat man bis zu diesem moment über jahre hinweg miteinander gelebt, gelacht, geweint, geredet, anteil an seinem leben genommen ... und man stimmt ein in das geschrei der mehrheit, ja, es sei schon immer so gewesen und überhaupt ...

irgendwo, in einem unbedeutendem satz ist der anfang, der keim gelegt. und heute wie damals, ohne weiter darüber nachzudenken, reiht sich ein satz an den darauf folgenden, scheinbar ohne zusammenhang. heute wie damals sind die unterschiede zwischen manchen dingen nicht so weit auseinander, man ist sich näher als man glauben möchte. heute wie damals wird später einmal mehr beteuert werden, man hätte nichts gewußt, nichts mitbekommen; wenn man früher gewußt hätte ...

heute wie damals stimmt man dingen zu, die 'der sicherheit des staates' gelten, die 'der sicherheit aller' gelten. heute hat es einen anderen namen. mit der zeit hat sich das erscheinungsbild geändert, die worte hinter den worten jedoch weniger. die zeiten von kantigen worten, uniformen und märschen sind vorbei. man hat sich, einmal mehr, dem zeitgeist angepaßt. und einmal mehr scheint es, als ob gesammelte unbedeutende worte erneut fruchtbaren boden fanden und noch immer finden. dem zeitgeist angepaßt, könnte man am ende erwachen und feststellen, daß man sich in einer welt befindet, die man nie wollte. und doch nie etwas dagegen tat [oder tun konnte], da man ja nicht ahnte, nicht wußte ...

aber man beteuert einmal mehr, es darf nie wieder sein. jedes jahr aufs neue an diesem tag. und kaum, daß die worte verklungen sind, werden sie wieder vergessen. ritual abgehalten und beendet, übergang zur tagesordnung mit business as usual. und vergißt dabei, daß das, worüber man gedachte, keineswegs heute vor 70 jahren begann, sondern viel, viel früher. der auslöser und die ursache werden immer verschieden sein, doch der ursprung in einem unbedeutenden satz wird einmal mehr weitergetragen werden ...

man sagt, geschichte wiederhole sich nicht. linear mag das stimmen. doch wenn ich die heutige gesellschaft mit der vor 70/80/90 jahren vergleiche, stehen wir uns in manchen dingen näher als wir denken. und einmal mehr denken wir uns, mit all unserer zivilisatorischen kultur, unserem technologischem fortschritt, unserer ethik, unserem wohlstand ... es könne uns niemals passieren.
doch solange wir nicht aus unserer eigenen geschichte gelernt haben; solange wir, als achtreichstes land nicht genug geld zu haben scheinen und quasi schweigsam zusehen beim wegsehen; solange wir unsere eigene sprache nicht mehr verstehen, da wir zwar nebeneinander wohnen, aber obwohl die gleiche sprache sprechen, doch unterschiedliche worte meinen; solange unsere gewählten vertreter vergessen haben, wie ihre wähler denken oder weiter ihre sprache verlernen und scheinbar keine zeit mehr haben für den einzelnen; solange toleranz und deren ausübung anscheinend doch grenzen kennt
; solange wir uns selbst immer fremder zu werden scheinen; solange unser verdruß, ebenso wie leere und frust, weiter im stillen wachsen ... kann aus unbedeutenden worten ein ganzer satz werden, der sich ausbreitet, einmal mehr über die mehrheit hinwegfegt.

doch dann, wenn das passiert, könnte es bereits zu spät sein ... trotz aller beteuerungen, es wird sich nicht wiederholen, und aller gedenken an den tag heute vor 70 jahren. denn dann ... dann zählt nur mehr der moment und die macht des wortes ... und die, die heute gedachten, beteuerten, werden dann vermutlich nicht mehr sein, denn das, was sie schufen, wird sie hinwegfegen. und einmal mehr werden sie sich nicht bewußt sein dessen, was sie getan haben, stück für stück, da sie es ja um 'der sicherheit aller' taten.

es ist gut, sich an etwas zu erinnern, etwas zu gedenken. aber man sollte nie vergessen, welcher weg zu diesem moment führte.

[Бал–ташкит]

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